Die Stadt Schleswig wurde ab Januar 1945 von Flüchtlingen aus den Ostgebieten des zusammenbrechenden Reiches überlaufen. Der Stadtchronist Ernst Petersen hielt die Ereignisse fest:

Am 22.Januar trafen die ersten Flüchtlinge aus dem Osten ein. Die Bugenhagenschule diente – wie bisher schon für Ausgebombte – als Auffanglager. Im Februar trafen etwa 8oo Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Reiches ein. Die vorläufige Unterbringung erfolgte in Notquartieren und auf Schloß Gottorf. Der größte Teil dieser Flüchtlinge wurde in den nächsten Tagen weitergeleitet und im Kreise Schleswig untergebracht. Etwa 2oo Personen blieben in der Stadt. In den nächsten Tagen und Wochen trafen weitere  8oo Flüchtlinge aus den Ostgebieten ein, um bald darauf im Kreise untergebracht zu werden. Ein kleiner Teil verblieb in der Stadt. Ende Februar 45 beherbergte Schleswig jetzt schon rund 5000 Ausgebombte und Flüchtlinge.
Anfang März trafen wiederum mehrere Hundert Flüchtlinge aus dem Osten ein. Sie wurden bis zur Weiterbeförderung in “Hohenzollern” untergebracht. Es war ein bemitleidenswerter Treck, der am anderen Morgen auf dem Lande untergebracht wurde. Weitere Flüchtlingstrecks waren eingetroffen und im Restaurant “Hohenzollern” untergebracht worden. Das Auffanglager in der Bugenhagenschule und die Turnhalle in der Wilhelminenschule wurden wegen Seuchengefahr gesperrt. In der Wilhelminenschule sind lettische Flüchtlinge einquartiert. Ende März kamen zahlreiche Flüchtlingstrecks mit ihren Gespannen durch die Stadt, besonders durch den Friedrichsberg, um nach Norden, bzw. Angeln weiterzuziehen und dort endlich eine Bleibe zu erhalten. Die Trecks waren schon mehrere Wochen unterwegs und kommen aus Westpreußen und Pommern. Anfang April trafen Flüchtlinge über Flüchtlinge hier ein. Dieselben waren bald nicht mehr unterzubringen, Ende des Monats brachte die schlechte Kriegslage immer weitere Flüchtlinge aus dem Süden und Osten nach Schleswig. Die Auffangläger im Stadttheater, Hohenzollern und in der Bugenhagenschule wurden nicht mehr leer. Eine Unterbringung wurde immer schwieriger. Im August 1945 betrug Schleswigs Einwohnerzahl 26213. Dazu kamen noch 9767 Flüchtlinge und Evakuierte. Insgesamt sind es also rund 36ooo Personen.

Unter diesen Flüchtlingen befand sich auch die Familie Gericke, die aus ihrem Heimatdorf in der Nähe von Frankfurt an der Oder vor den heranrückenden russischen Truppen nach Westen geflohen sind. Reinhard Gericke, damals 6 Jahre alt, hat die Erinnerungen seiner Eltern an diese Flucht festgehalten:


Flucht von Brandenburg nach Schleswig-Holstein

In den letzten Tagen des Januar 1945 erreichten die ersten russischen Panzer die Oder und zwar etwas nördlich unseres Dorfes, das ca. 10 Kilometer östlich von Frankfurt/Oder liegt. Mein Vater lag damals verwundet in Frankfurt im Lazarett. Als erfahrener Frontsoldat hatte er veranlasst, dass meine Mutter sich mit uns beiden Kindern schon vorher nach Frankfurt in Sicherheit brachte. Es sollte ja nur für einige Tage sein, bis die Lage sich wieder beruhigt hatte. So hatten wir auch fast kein Gepäck mitgenommen. Aber es kam alles ganz anders.

Die Stadt wurde ständig von den Russen beschossen und man begann mit der straßenweisen Räumung der Stadt. Am 6.Februar mussten wir dann mit der Bahn nach Westen fahren. Vorher hatte die Mutter noch stundenlang vergeblich auf den Treck aus unserem Dorf gewartet. Aber dort war schon alles im Chaos versunken.

In Vehlefanz, Febr.-April 1945. Rechts R.Gericke
In Vehlefanz, Febr.-April 1945. Rechts R.Gericke

 

In Vehlefanz, einem Dorf bei Berlin,  fanden wir dann eine vorläufige Bleibe, ständig in der Hoffnung, es gehe bald wieder zurück. Hier wurde dann unser kleiner Bruder geboren. Am 16.-18.April war es den Russen gelungen, die Oderfront zu durchbrechen und sie stürmten auf Berlin zu. Am 22.April hatten sie Oranienburg erreicht und waren nur noch 8 Kilometer von uns entfernt. So machten wir uns am gleichen Abend auf den Marsch. Mit vielen Menschen ging es zu Fuß in Richtung Neu-Strelitz. Mutter schob den Kinderwagen mit dem kleinen Bruder, ich war damals 6 Jahre alt und lief nebenher. Vater, inzwischen wieder zu uns gestoßen, musste wegen seines Gipsbeines mit 2 Krücken laufen. Auf Wehrmachtsfahrzeugen, teils auf der Munition sitzend, kamen wir über Waren/Müritz nach Ratzeburg. Doch die Stadt sollte verteidigt werden und alle Flüchtlinge mussten raus. Wir erhielten unseren schriftlichen Marschbefehl (noch heute in unserem Besitz) nach Dänemark und fuhren mit Lastkraftwagen der Luftwaffe am 1.Mai 1945 ab.

Marschbefehl nach Dänemark
Marschbefehl nach Dänemark

Mehrere Male wurden wir von Tieffliegern beschossen, woran ich mich noch genau erinnere. Der Bahnhof von Neumünster sah schlimm aus mit den übereinander geworfenen Waggons. Als wir Schleswig erreichten, meinte Vater: “Aus Deutschland gehen wir nicht raus, sterben können wir auch hier.” So brachte man uns dann am 2.Mai in Schleswig zunächst ins Stadttheater und kurz darauf in die Wilhelminenschule. Dort herrschten katastrophale Zustände, es waren ca. 35-40 Personen in einem Klassenzimmer untergebracht, die Menschen lagerten auf Stroh und es gab fast nichts zu Essen.
Mein kleiner Bruder war schwer erkrankt und dem Tode nahe, medizinische Versorgung gab es fast nicht. Glücklicherweise fand Mutter einen Platz für ihn im Säuglingsheim in der Plessenstraße (Plessenhof). Nur der Fürsorge der damaligen Oberin, Schwester Christine, ist es zu verdanken, dass er am Leben blieb. Vater musste dann nach dem 8.Mai beim Engländer ins Lager. Mutter ging aufs Land, um etwas zum Essen zu erbetteln. So gelangte sie nach Selk, wo sie Arbeit und Wohnung fand und uns nachholen konnte. Kurz darauf brach in der Wilhelminenschule Typhus aus und die Schule wurde unter Quarantäne gestellt. Fahre ich heute dort vorbei, so habe ich sofort die Bilder von damals wieder vor Augen.

Aus unserem Dorf sind Anfang Februar 45 nur 2 Fuhrwerke in letzter Minute entkommen, indem sie auf Feldwegen zur Oder fuhren und dort über das Eis in den Westen rollten. Bei uns waren die Wagen auch schon lange gepackt und die Pferde standen Tag und Nacht angeschirrt im Stall. Da aber mein Großvater noch zum Volkssturm musste, war, außer meiner Großmutter,  nur ein polnischer Zwangsarbeiter auf dem Hof.
Beim Einmarsch der Russen sind dann fast alle männlichen Einwohner erschossen worden, darunter auch beide Großväter. Es herrschten schreckliche Zustände, so dass einige Familien freiwillig aus dem Leben gingen. Im Sommer 45 kam das Gebiet unter polnische Regierung. Jedoch wurde nichts besser, alle Deutschen mussten Haus und Hof verlassen und wurden wie Vieh nach Westen getrieben. Beim Überqueren der Oder wurden meiner Großmutter die Schuhe weggenommen, so dass sie barfuß weiter musste.

So hatten wir durch den schrecklichen Krieg das Land, in dem unserer Vorfahren nachweislich seit 300 Jahren als Bauern tätig gewesen waren, verloren, aber unser Leben hatten wir gerettet. Nach 1988 waren wir dreimal in unserem Heimatdorf. Durch den Krieg ist viel zerstört und nicht wieder aufgebaut worden.

Reinhard Gericke, Selk